Zerbröselt der Westen, den wir kannten?

16. Januar 2019

Aufregende Zeiten? Aufregende Zeiten! Das Spektakel der britischen Unterhausdebatten und -abstimmungen hat hohen Unterhaltungswert, der „Mr. Speaker“ („Ooorder, Order!“) verdiente eigentlich einen Polit-Oscar als Unterhaltungskünstler. Aber das Thema, das behandelt wurde, der Brexit, ist bitterer Ernst und zwar nicht nur für das UK sondern natürlich auch für die EU.

Die Aufführung der Insel-Politiker hat ganz konkrete Folgen und Kosten für die Rumpf-EU und damit vor allem auch für uns Deutsche. Die historisch-hysterische Klatsche für Theresa May von 202 gegen 432 Stimmen bildet nämlich nur den kleinsten gemeinsamen Nenner der Gegner ab, generell mit Mays Lösungsvorschlag nach zweieinhalb Jahren verworrener, halb-geheimer (oder halb-gemeiner?) Verhandlungen mit der EU nicht einverstanden zu sein.

Diese May-Gegner summiert, vereint also die radikalen Brexiter („nix wie raus, ohne Vertrag, um jeden Preis!“) ebenso, wie die bedingten Brexiter (..ja schon, aber nicht so!) und die tatsächlich existierenden Remainer („…die Zukunft des UK liegt innerhalb der EU!“)  denen meine volle Sympathie gilt!

Der Labour-Vorturner Jeremy Corbyn wird dies vermutlich heute bei seinem Misstrauensantrag erleben. Keine Ahnung wie es ausgehen wird, aber es dürfte wohl sehr, sehr knapp werden? NACHTRAG: 16.01.2019 um 20:15 Uhr wird gemeldet, daß Theresa May daß Misstrauensvotum von Jeremy Corbyn mit einem knappen Vorsprung von 19 Stimmen für sich entscheiden konnte und ihre interne Tory-Rebellion somit eingrenzen, befrieden konnte…

Ein paar generelle Fragen, die vor den aktuellen Ereignissen in den Hintergrund traten, seien trotzdem erlaubt. Der BREXIT war eine gut organisierte, wohl finanzierte Medien-Kampagne, deren eigentliche Väter und Finanziers meines Wissens bis heute unbekannt sind? Keiner wird ernsthaft behaupten wollen, daß die Ex-UKIP-Knallcharge Nigel Farage, die bis zu den EU-Wahlen im Mai wohl versorgt und alimentiert im EU-Parlament sitzt, der geistige Vater dieses Projektes ist? An der UK-Politik ging diese Kampagne anfangs vorbei, die wurde auf dem falschen Bein erwischt, aber von wem? Einmal vom damals sozial schon tief gespaltenene Volk mit knapper Mehrheit entschieden, musste er dann aber unwidersprochen durchgezogen werden, obwohl er zum nicht kleinen Teil auf blanken Lügen und nicht auf Fakten beruhte? Die Konservativen, die den Schlamassel eingebrockt hatten, standen sofort zur Realisierung des BREXIT bereit und betrauten Theresa May mit der Aufgabe.

Ich bin überzeugt davon, daß ein BREXIT der Anfang vom Ende der EU bedeuten würde/wird. Eine EU ohne Frankreich, England und Deutschland ist mittelfristig nicht überlebensfähig. Es wird bei jeder passenden oder unpassenden Gelegenheit Nachahmer geben, die dem britischen Beispiel folgen wollen werden. Da böten sich geographische, wirtschaftliche und historische Aspekte an, für die BENELUX-Staaten, für Skandinavien zum Beispiel. Die Ursprungsaufgabe der EU, die wirtschaftliche und politische Befriedung und Stabilisierung  des WW2-Nachkriegs-Europas gegen den „Ostblock“, gegen Stalin & Co., gegen „die bösen Russen halt“, wird anscheinend zunehmend als störend empfunden und eine destabilisierte EU, die Rückkehr zu einem Europa der krawallsüchtigen, zerstrittenen Nationen vorgezogen und aktiv betrieben, vom wem?

Da gäbe es zwar theoretisch mehrere Kandidaten, was aber noch zu beweisen wäre…

In Frankreich läuft seit 10 Wochen parallel der „Gelbwesten-Protest“. Anfangs von der Politik nicht Ernst genommen und über die Feiertage zum Jahresende abgeflaut, hat der Protest im neuen Jahr wieder zahlenmäßig zugelegt. Auslöser waren Erhöhungen der Kraftstoffpreise, die das „Dieselfass“ zum Überlaufen brachten. Die ländliche Unterschicht rebellierte anscheinend unkoordiniert und versaute den Großstädtern, vor allem den Parisern, das Weihnachtsgeschäft.

Dahinter steckt das begründete Gefühl der Unterschicht und der unteren Mittelschicht wirtschaftlich „abgehängt zu werden“. Die Menschen werden von steigenden Mieten aus den Städten auf’s Land getrieben, wo die relativ weiten Wege zur Arbeit bei oft fehlender öffentlicher Verkehrsstruktur sich auf das eigene Fahrzeug, aus Kostengründen zumeist den eigenen Diesel-Kleinwagen, verlagern.

Diese Diesel-Preise zu erhöhen traf diese Menschen ins „wirtschaftliche Mark“. Die Gegenreaktion von Emmanuel Macron auf die Proteste von zeitweilig Hunderttausenden ehrt ihn Einerseits (hat vor ihm meines Wissens noch kein amtierender Regierungschef versucht!), setzt ihn aber Andererseits erneuter Kritik aus (die Macht konservierende Scheindiskussion, von oben herab, falsche Themen!).

Jedenfalls versucht die Politik ihre Strukturen zu bewahren und will die unterste politische Hierarchie-Ebene, die Bürgermeister vor Ort, mit dem geistigen Austausch mit der französischen Bevölkerung, „den lieben Mitbürgern“ Macrons beauftragen.

Die politischen hierarchischen Strukturen Frankreichs werden sich nicht selbst abschaffen wollen. Die Regierung will das Gewaltmonopol auf den Straßen nicht an einen gelben Mob abgeben und kündigt verstärkte gesetzliche Regelungen und daraus folgende härtere Strafmaßnahmen an. Macron wird aber nicht auf die Dauer jedes Wochenende 80-100.000 Polizisten auf die Straßen bringen können, ohne daß diese irgendwann „aus den Latschen kippen“ oder ihre aufgelaufenen Überstunden abfeiern? Da könnte dann das Militär ins Spiel kommen, der Ausnahmezustand? Angeblich soll die Polizei CRS sogar mit dem deutschen(?) Sturmgewehr G36 von Heckler und Koch und scharfer Munition ausgerüstet sein, wie zumindest Fotos vermuten lassen?

Die „Gelbwesten“, anscheinend immer noch ohne zentrale Strukturen, wollen sich nicht von Macron die neoliberale Agenda aufzwingen lassen. Sie hätten vermutlich auch nicht die Kompetenz sich in „Macrons-Labyrinth“, die Details der 32 konkreten Fragen zu vier Themenkomplexen fachlich erfolgreich einzubringen? Taktisch ist für die „Gelbwesten“ auf jeden Fall die Nichtakzeptierung von Macrons „aufgezwungener Agenda“ der logische Auftakt für eventuelle Verhandlungen!

Macron will sein Gesicht wahren und gleichzeitig seine Streichung der Vermögenssteuer der Reichen beibehalten. Aber auch in seinem Fall besteht die Frage nach den Hintergründen. Wer hat die Kampagne dieses neoliberalen Quereinsteigers ohne jegliche politische Erfahrung finanziert und dafür gesorgt, daß er mit seiner Laientruppe von Bewegung, die gesamte französische Politik, speziell aber die Linke aushebeln und Präsident werden konnte?

Mal sehen, was das Verhandeln am Ende bringen wird, denn es ist – wie gesagt – ein Novum!

Deutschland besitzt ganz ähnliche wirtschaftliche und soziale Probleme und Strukturen, die sich politisch durch die Existenz der AfD manifestieren bei gleichzeitiger Marginalisierung der vormaligen Volksparteien, vor allem der SPD. Es ist wohl nur eine Frage der Zeit bis es auch bei uns kracht auf den Straßen und Plätzen?

Italien? Spanien? Polen? Ungarn, und, und…? (Aufzählung erhebt keinen Anspruch auf Vollzähligkeit!) Um die allgemeine Unzufriedenheit potentiell noch zu steigern, scheint die Wirtschaftskonjunktur (ja, auch die Deutsche!) abzuflauen. Jetzt braucht es nur noch ein bißchen Trump-Theater mit Zöllen und Sondersteuern und wir nähern uns einer kritischen Masse. Man muss sich schon fragen, ob das Primat der Wirtschaft vor der Politik, das neoliberale Glaubensbekenntnis der letzten 20 Jahre, nicht am Ende gar irgendwie zu dieser Situation beigetragen hat? (Ironie aus!).

Im Mai sind Europawahlen. Es besteht die reale Gefahr, daß rechte Parteien einen großen eigenen Block im EU-Parlament bilden können und die EU dann – von ihr fürstlich alimentiert – sie wie ein Krebsgeschwür von Innen heraus zerstören können?


Präsidentschaftskandidat Hollande: Merkel, die entscheidet nicht für Europa!

16. März 2012

Bonjour Monsieur! Präsidentschaftskandidat Hollande endlich aufgewacht? In einem TV-Interview von FRANCE 2 reagiert der Kandidat endlich erkennbar auf die Tatsache, dass Sarkozy ihn in den meisten Umfragen überholt hat. Er zeichnet sich als Kandidat mit Entscheidungskraft aber ohne die rechtslastigen Vulgärexzesse Sarkozys, die mittlerweile sogar von der NYT kritisiert werden.

Er kündigte an, zwar notwendige Einsparungen zu treffen, dabei aber nie die Interessen seines Landes zu vernachlässigen (wie er es Sarkozy offenbar unterstellt)!  Wenn die EU nicht in der Lage sei Entscheidungen zu treffen, dann würde er faule Kompromisse auch nicht ratifizieren und er hätte dabei keine Angst vor den Konsequenzen!

„Es wäre nicht das erste Mal“, erinnerte er an die Zurückweisung der EU-Verfassung durch Frankreich und die Niederlande im Jahre 2005, die zu einer EU-Krise, Neuverhandlungen und der Ratifizierung im zweiten Anlauf geführt habe.

Hollande positionierte sich als Europäer, der die Ausrichtung des Kontinents verändern werde und verlangte Haushaltspläne auch für die Energie-, Forschungs- und Innovationssektoren.

Der Sozialist räumte ein, dass seine Politikwechsel einige roten Linien übertreten würden, die die deutsche Kanzlerin Angela Merkel aufgezeichnet hätte, aber die die deutsche Kanzlerin entscheide schließlich nicht im Namen aller Europäer! Denn so fügte er hinzu, „Frankreich sei nicht irgendein Land, sondern ein großes Land!“

Auch der Sozialist Hollande konnte sich leider eine Anleihe bei Marine Le Pen nicht verkneifen: Er kündigte die Bildung einer Spezialbrigade zur Bekämpfung der illegalen Einwanderung an und dass das Parlament künftig jährlich die Zahl der aus wirtschaftlichen Gründen benötigten Einwanderer öffentlich nennen werde. Darüber hinaus soll diese Einwandererquote noch nach Berufen, Kategorien und Herkunftsländern diferenziert werden. (Das klingt verdächtig nach einem neuen staatlichen Bürokratieapparat?)

Im Falle seiner Wahl zum Präsidenten wolle ab dem Sommer eine neue Phase der Dezentralisation und Verlagerung staatlicher Verantwortung nach unten beginnen, damit jeder französische Bürger künftig wisse „an wen er zahle und warum!“

Bei der Vermögenssteuer will er zur Situation vor Sarkozy zurückkehren und mit Belgien, der Schweiz und Luxembourg das Steuerabkommen neu verhandeln um die anhaltende Steuerflucht aus Frankreich zu stoppen.

Er will ferner die Arzneimittel-Preise senken in Frankreich und die Kosten für Medikamente der Sozialversicherung. Dazu wolle er den Benzinpreis für drei Monate einfrieren!

Wie es scheint, hat die Tatsache, dass Sarkozy ihn diese Woche erstmals in den Umfragewerten für den ersten Wahlgang überholte, den „Schlafwagenmann“ Hollande geweckt und aufgerüttelt? Seine hier vorgestellten Maßnahmen sind zwar teilweise kaum weniger populistisch als die Versprechungen Sarkozys, aber trotzdem hat Hollande erfolgreich dessen unterirdisches Kampagnen-Niveau vermieden!

Als Deutscher kann und muss man ihm Erfolg wünschen, denn nur mit einem Frankreich, das klar und vernehmlich „Non!“ sagt, kann die verhängnisvolle neoliberale Merkelpolitik in Europa beendet werden. Die Kanzlerin kann damit leben. Sie wird einfach ihr Mäntelchen in die neue Windrichtung hängen und künftig dann einfach das Gegenteil behaupten. Damit hat Madame überhaupt kein Problem…

http://www.lavanguardia.com/internacional/20120316/54269217675/hollande-desafia-a-merkel-y-dice-que-alemania-no-decide-sola.html