Paris sah die größten und gewalttätigsten Demos seit Beginn der Proteste gegen das geplante neue Arbeitsgesetz „loi El Khomri“.

15. Juni 2016

Gestern sollen in Frankreich, je nachdem ob die Veranstalter oder die Polizei gezählt hatte, zwischen 1,3 Millionen und 400.000 Menschen gegen das geplante neue Arbeitsrecht „loi El Khomri“, die französische Version von Schröders Agenda 2010, demonstriert haben. Dazu aufgerufen hatten die Gewerkschaften CGT, FSU, FO, Solidaires, Unef, UNL und Fidl . Es soll 58 Festnahmen und 40 Verletzte gegeben haben.

Premierminister Manuel Valls reklamierte die Ambivalenz des Ordnungsdienstes der Gewerkschaften bezüglich der während der Demonstrationen verübten Gewaltakte durch ca. 700-800 gewaltbereite Teilnehmer: „Solche Kundgebungen brauchen wir in der Hauptstadt nicht, sie seien unerträglich“, so Valls.

Andere Politiker von Hollande bis Sarkozy rufen nach dem starken Staat, nach Verboten und Prozessen und Schadensersatzforderungen für Zerstörungen gegen Gewerkschaften und Einzelpersonen.

Doch schon stehen neue Demos – die neunten auf nationaler Ebene in Frankreich – an und Valls verlangt von der CGT „solche Kundgebungen NICHT mehr in Paris durchzuführen!“

Wenn man als Gewerkschaft nicht dazu in der Lage sei, solch eine Kundgebung geordnet, ohne Gewaltakte und Krawalle, durchzuführen dann müsse man eben von Fall zu Fall über Verbote nachdenken. Ein generelles Verbot sei aber nicht möglich. Die Gewerkschaft solle auch an die Bilder aus Frankreich denken, die jetzt während der Fußball-EM in die Welt hinaus gingen…

Gleichzeitig lehnte er eine Änderung des Textes des geplanten neuen Arbeitsgesetzes ab, das in dieser Woche wieder parlamentarisch behandelt wird. Besonders kritisiert, neben vielen anderen Punkten, der Artikel zwei des Entwurfes der vorsieht, daß künftig betriebliche Absprachen über gewerkschaftlichen Tarifen und Verträgen stünden. Da bedeutet, daß jede Firma durch interne Vereinbarungen Flächentarifverträge unterlaufen könnte.
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http://www.lefigaro.fr/social/2016/06/14/09010-20160614ARTFIG00231-violences-a-paris-dans-les-manifestations-ce-qu-il-faut-savoir-en-fin-de-journee.php
http://www.leparisien.fr/politique/loi-travail-valls-demande-a-la-cgt-de-ne-plus-organiser-de-manifestations-a-paris-15-06-2016-5886055.php


Soziallabor Paris: „Die Empörten der Nacht!“

13. April 2016

Seit den Zeiten der „Indignes“, der Empörten, der letzten großen Basisbewegung sind ein paar Jahre vergangen und die Spontanität ging irgendwann verloren, als sich Parteien, Organisationen, Verbände, kurz, seit sich Interessengruppen der Straßenbewegungen bemächtigten oder diese sich aus Eigeninitiative in den parlamentarischen Politikbetrieb einbringen wollten, wie dies z. B. durch PODEMOS & Co. in Spanien geschah.

Als sich am Morgen des ersten April die letzten hundert Demonstranten am Place de la République in Paris „mit Hilfe der Polizei auflösten“ und sich trotzig für den Abend erneut hier verabredeten, ahnten sie wohl nicht, daß sie damit Geschichte machen würden?

Sie hatten am Donnerstag mit anderen rund 28.000 Parisern (Polizeiangabe) an der landesweiten Demonstration gegen die Skandal-Reform der Arbeitsgesetze, des „loi El Khomri“ teilgenommen und waren danach zum Place de la République gezogen und hatten da spontan und unorganisiert „die Nacht durch gemacht“, sie zur „Stehnacht“ gemacht, womit ein neuer Begriff, ein Schlagwort für diese Aktion geboren war, la „Nuit debout“!
http://www.theguardian.com/world/2016/apr/08/nuit-debout-protesters-occupy-french-cities-in-a-revolutionary-call-for-change

Zwischen 390.000 (laut Polizei) und 1,2 Millionen, darunter 200.000 Jugendliche (laut Organisatoren) haben in 250 Städten demonstrierten am Vortag  „mit zusätzlichen zigtausend Arbeitsniederlegungen„,und folgten den Aufrufen von sieben Gewerkschaften und Schüler- und Jugendorganisationen (CGT, FO, Solidaires, FSU, Unef, FIDL, UNL). Doch diese Proteste beschränkten sich auf die sogenannte Reform, die Verschlechterung des Arbeitsrechtes, populär nach der Ministerin „loi El Khomri“ genannt.

Seit nunmehr 14 Tagen finden sich nun an der Place de la République Nacht für Nacht mehr Menschen ein und demonstrieren. Natürlich geht es noch immer gegen die sogenannte „Reform des Arbeitsgesetzes“, aber längst hat sich die allgemeine Unzufriedenheit etwas anarchisch ausgebreitet. Unter dem Motto „widerstehen und schaffen“ gibt es nächtliche Bürgerversammlungen, Debatten und Konzerte.

Die Staatsmacht wusste zunächst nicht recht damit umzugehen. Dann griff sie „in bewährter Manier“ durch und räumte den Platz. Inzwischen laufen jeden Abend mehr Demonstranten und mehr Polizei auf und es gibt Räumungen, Festnahmen, Zwischenfälle. Der  Staatsmacht gelang es aber nicht, diese nächtlichen Versammlungen am Place de la République zu verhindern. Die Pariser schwanken je nach politischem Lager zwischen Toleranz (die Linke) und Härte (die Rechte). Die Rechte spricht gar von „einer Dikatur der Minderheit“, vom Minderheiten-Terror. Immerhin befinde sich Frankreich ganz offiziell im Ausnahmezustand wegen der Terroranschläge von Paris. Da müsse man die Regeln besonders genau einhalten!

Funktionierende Interaktion zwischen Bürgern, Rathaus und Polizei:
Die Polizei räumt den Platz meist zwischen 5 und 6 Uhr Morgens, dann kommt die Pariser Stadtreinigung säubert den Platz und baut alle Zelte, Stände und Installationen der nächtlichen Demo ab. Das Ganze habe teilweise Kirmes-Charakter oder gleiche einem Dritte-Welt-Flohmarkt. In der Nacht vom letzten Sonnabend auf Sonntag zogen hunderte Demonstranten vom Platz der Republik zur Wohnung des Premierministers Manuel Valls im Pariser Osten auf einen „Apero chez Valls“.

Da passiert zweifellos gesellschaftlich, kulturell etwas Neues, inzwischen gar mit „Radio-Debout“ und gar „TV-Debout“, aber da gibt es auch allnächtlich, wenn auch  in unterschiedlichem Maße, Randale, Beschädigungen, Zerstörungen, Bürgergewalt und Staatsgewalt. Letztere fährt inzwischen in großer Zahl auf und ihre Mannschaftsbusse blockieren die angrenzenden Straßen.

Bei den „Stehern der Nacht“ entsteht offenbar etwas Neues, Weitergehendes, mit spontaner, anarchistischer Komponente, denn sie entwickeln sich anscheinend ohne große Organisation dahinter? Spötter sagen allerdings, da demonstriere eine homogene Unterschicht derer, die es sich leisten könnten, denn von denen ginge am nächsten Tag gewiss keiner zur Arbeit?

Der Großraum Paris zeigt sich erneut, wie auch schon im Fall der islamistischen Gewalt durch (im Wesentlichen) Franzosen, als ein gigantisches Soziallabor, in dem Dinge entstehen und entstanden sind, die unser alle Zukunft in der EU beeinflussen könnten ob uns dies nun gefällt oder nicht?

Es gibt den Widerstand gegen die westliche Gesellschaft durch unterprivilegierte Migranten und deren Nachkommen unter Radikal-islamischem Vorzeichen.

Es gibt Widerstand der Jugend gegen die französische Regierung wegen schlechter wirtschaftlicher Perspektiven und Chancen in der Zukunft.

Es gibt Widerstand gegen den Moloch EU, der die Republik Frankreich durch geforderte Wirtschaftsreformen, sprich Sparkurse asozialisieren will, wie es ihr in Deutschland schon durch die Agenda 2010 des unseligen „Genossen der Bosse“ Schröder gelang.

Die Frage wird sein, in welche Richtung sich die „Nuit debout“ entwickelt, ob sie sich radikalisiert und politisch zuspitzt, oder ob sie sich in ein „wir-sind-die-Guten-Wohlfühl-Festival“ verwandelt und einfach Party macht…

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http://www.lemonde.fr/societe/article/2016/04/12/nuit-debout-du-discours-a-l-action-la-difficile-question-de-la-securite_4900207_3224.html

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http://www.lefigaro.fr/flash-actu/2016/04/01/97001-20160401FILWWW00105-nuit-debout-la-place-de-la-republique-evacuee.php
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http://videos.leparisien.fr/video/dans-les-coulisses-de-la-nuit-debout-09-04-2016-x436aex
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http://www.theguardian.com/world/2016/apr/11/police-evacuate-protesters-paris-square-place-republique-riots
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http://www.theguardian.com/world/2016/apr/09/seven-police-17-protesters-injured-france-demos-turn-violent